Arbeitslose und Opinion Leader

1933–21. Jhdt.

„Wir haben als Wissenschaftler den Boden Marienthals betreten. Wir haben ihn verlassen mit dem einen Wunsch, dass die tragische Chance solchen Experiments bald von unserer Zeit genommen werde.“
Marie Jahoda in ihrem Buch "Die Arbeitslosen von Marienthal"

Jahoda und Lazarsfeld waren Pioniere der Soziologie. Sie verbanden ihre soziologische Forschung mit Mathematik und Psychologie. Beide Forscher führten neue Methoden in die Soziologie ein und prägten die Sozialpsychologie, die politische Soziologie und die Soziologie der Massenmedien.

Marie Jahoda, Sozialpsychologin

Marie Jahoda (1907–2001) war eine in der Arbeiterbewegung engagierte österreichische Sozialpsychologin. Berühmt wurde sie durch ihre sozialpsychologische Studie über die Langzeitarbeitslosen von Marienthal.

Jahoda studierte ab 1926 Psychologie an der Universität Wien, und schloss 1931 ihr Studium mit einer Dissertation bei dem Psychologen Karl Bühler ab. Im gleichen Jahr begann sie an der „Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle“ zu arbeiten, die mit der Universität Wien assoziiert war. Dort entstand die bahnbrechende Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal", die zu einem großen Teil von Jahoda verfasst wurde. 1937 wurde Jahoda wegen ihrer Unterstützung der Sozialdemokratie verhaftet. Sie verließ nach ihrer Haftentlassung Österreich und setzte ihre Forschungen zur Sozialpsychologie an Universitäten in England und Amerika fort. 1998 erhielt sie das Ehrendoktorat der Universität Wien.

Paul Lazarsfeld, Soziologe

Paul Lazarsfeld (1901–1976) war ein österreichischer Soziologe. Er gilt als einer der Begründer der modernen empirischen Sozialforschung. Unter dem Druck der politischen Ereignisse in Österreich entschloss er sich 1933 zur Emigration in die USA.

Lazarsfeld hatte in Wien sein Studium der Mathematik und der Physik mit einer Dissertation über Einsteins Relativitätstheorie abgeschlossen. 1926 heiratete er Marie Jahoda. In Kooperation mit Karl Bühler, der an der Universität Wien den Lehrstuhl für Psychologie inne hatte, gründete Lazarsfeld 1931 die „Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle“. Dort entstanden Pionierarbeiten zum Konsumverhalten, zur Wirkung von Massenmedien (Radio) und zur Arbeitslosigkeit. Mit einem Stipendium ging Lazarsfeld 1933 in die USA, wo er sich schnell als Soziologe etablieren konnte und zu einem Pionier der quantitativen Sozialforschung wurde.

1933

Die Weltwirtschaftskrise von 1929 hatte auch in Österreich eine massive Arbeitslosigkeit ausgelöst. Die „Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle“, an der Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld arbeiteten, begann 1932 eine sozialpsychologische Studie über die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf das Verhalten der Bevölkerung eines kleinen Industrieorts im Süden Wiens. In Marienthal bei Gramatneusiedl wurde durch die Schließung einer Textilfabrik ein großer Teil der Bevölkerung erwerbslos.

Durch umfangreiche Befragungen, die genaue Erhebung statistischer Daten und eine Photodokumentation wurde die lähmende psychologische Wirkung der Erwerbslosigkeit analysiert. Die Arbeitslosen werden apathisch, sie gehen langsamer durch den Ort und werden auch in ihrer Freizeitgestaltung untätiger. Es entsteht eine „müde Gemeinschaft“. Die erfassten Daten wurden von einem Team von Soziologen und Psychologen analysiert und diskutiert. Das Ergebnis wurde schließlich von Marie Jahoda in ihrer Studie zusammengefasst. Das Buch wurde zu einem Klassiker der Soziologie.

Der Wert und die Wirkung ihrer Forschung

Jahoda und Lazarsfeld entwickelten schon in Wien neue Methoden der Datenerhebung durch Befragungen. Lazarsfeld gab wesentliche Impulse für die Entwicklung mathematisch-statistischer Modelle zur Analyse sozialen Verhaltens. Diese innovativen Ansätze in der Sozialforschung konnten aber erst in der Emigration eine breite Wirkung ausüben. Jahoda arbeitete in Amerika, gemeinsam mit Max Horkheimer, an einer der berühmtesten sozialpsychologischen Studien über den „autoritären Charakter“. Darin wurden durch umfangreiche Interviews die psychologischen Voraussetzungen der Xenophobie, des Antisemitismus und der Akzeptanz autoritärer sozialer Verhältnisse untersucht.

Lazarsfeld wurde ein Pionier der Wahlsoziologie und der Soziologie von Massenmedien. In seinem Buch "The People´s Choice" (1944) untersuchte er die Prozesse der Meinungsbildung im amerikanischen Wahlkampf von 1940. Lazarsfeld hatte schon in Wien die soziale Wirkung des Radios untersucht und wurde in Amerika zu einem der wichtigsten Forscher über Massenmedien. In seinem Buch "Personal Influence" (1955) zeigte er, dass die Medien die Meinungsbildung der Bevölkerung oft nicht direkt beeinflussen, sondern das Denken der Menschen über den direkten sozialen Kontakt zu sogenannten
lokalen „opinion leaders“ prägen. Die Kommunikation der Massenmedien funktioniert über 2 Stufen: von den Medien zum „opinion leader“ und von diesem zu den einfachen Bürgern („two step flow of communication“). Lazarsfelds Modell der Kommunikation fand große Verbreitung. Der Begriff „opinion leader“ wurde zum Allgemeingut.

„Es war ein großes Glück, dass Jahoda und Lazarsfeld der Vernichtungsmaschinerie der Naziverbrecher nicht zum Opfer fielen, und es ist ein Segen, dass sie dadurch die Möglichkeit bekamen, die Sozialforschung entscheidend mit zu prägen.“
Anton Amann, Professor für Soziologie an der Universität Wien

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Christoph Limbeck-Lilienau, Dieter Schweizer

Zuletzt aktualisiert am : 05.03.2024 - 21:24

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