Die Thun-Hohensteinʼsche Universitätsreform

Das Ende der mittelalterlichen Korporation und die Entstehung der neuen "Ordinarienuniversität"
1849–1850

Als Unterrichtsminister Leo Graf Thun-Hohenstein (1849-1860) am 28. Juli 1849 sein Amt antrat, lagen die von Franz Exner und Hermann Bonitz ausgearbeiteten Reformpläne schon am Tisch. Es galt liberale Neuerungen, die im Revolutionsjahr unter dem Schlagwort der „Lehr- und Lernfreiheit“ propagiert worden waren, in der anbrechenden Ära des Neoabsolutismus politisch umzusetzen, die Reformen „zu retten“.

Dies schaffte Thun durch einen vorläufigen Kompromiss zwischen den gegensätzlichen Interessensgruppen mit dem „Provisorischen Gesetz über die Organisation der akademischen Behörden“ vom 30. September 1849. Davor war schon am 15. September der „Organisationsentwurf“ für die Gymnasien und Realschulen als erster Schritt genehmigt worden. Die bisher sechsklassige Mittelschule war um die zwei philosophischen Pflichtjahrgänge erweitert, die „Maturitätsprüfung“ als Zugangsvoraussetzung für die Universitätsstudien eingeführt worden. Gleichzeitig verlor die Philosophische Fakultät ihren „Vorschulcharakter“ und wurde zu einer wissenschaftlichen Lehr-und Forschungsstätte ausgebaut. Ganz wesentlich war die Einführung wissenschaftlicher Seminare und Institute. Hermann Bonitz begründete 1849 das erste wissenschaftliche Seminar in Österreich (Philologisch-Historisches Seminar) als Startschuss für zahlreiche weitere Gründungen. Hier konnten Studierende  an wissenschaftliche Arbeit herangeführt oder unmittelbar daran beteiligt werden, was bislang bei Frontalvorlesungen nicht möglich war.

Neben der Universitätsorganisation musste der Studienbetrieb neu geordnet werden. Die Initiative setzte Thun schon  am 30. September 1849 in einem „Vortrag“ über Studienordnung, Disziplinarordnung und die Einführung von Kollegiengeldern. Die entsprechenden Anordnungen erfolgten noch 1849 bzw. 1850, wobei der Grundsatz der Lehr- und Lernfreiheit betont wurde.

Heftigen Widerstand leisteten konservativ-katholische „Traditionalisten“, die sich vor allem in den nichtlehrenden, nun nach dem Gesetz neu konstituierten Doktorenkollegien sammelten. Die „Doktoren“ sahen sich als Träger der universitären, korporativen Tradition, als die „eigentlichen“ Fakultäten im Gegensatz zu den Professoren, die bloß staatlich verordneten Unterricht hielten. Sie wollten den „katholischen Charakter der Universität Wien“ gewahrt sehen und die alte korporative Organisation wiederherstellen. Die Evangelisch-Theologische Fakultät (begründet 1821 als protestantisch-theologische Lehranstalt) wurde deshalb nicht der Universität angegliedert (erst 1922), die Wahl nicht katholischer Dekane wurde bekämpft, der geistliche Universitätskanzler (Dompropst zu St. Stephan) behielt Sitz und Stimme im Universitätskonsistorium (Senat).

Dagegen vertraten die ebenfalls nach dem Gesetz neu konstituierten Professorenkollegien als Vertreter der „Wissenschaft“ die Ideale der „Neuen Universität“, als einer wissenschaftlichen, vornehmlich staatlichen Institution. Ihr Kreis wurde bald durch Berufung wissenschaftlicher Kapazitäten vor allem aus Deutschland – darunter auch Protestanten - erweitert. Schon 1848 waren mit der Einführung der Habilitation die Weichen für die Ausbildung eines eigenen wissenschaftlichen Nachwuchses gestellt worden. Thun konnte 1850 durch die Einführung der Kollegiengelder (1 Gulden pro Wochenstunde, ab 1892 zwei Kronen) das Auskommen für Privatdozenten sicherstellen und verschaffte gleichzeitig den beamteten Professoren ein besseres Einkommen.

Mit dem Abschluss des Konkordats im Jahre 1855 erreichte der Einfluss der römisch-katholischen Kirche auf das Bildungswesen seinen Höhepunkt. Das Schulwesen stand unter der Aufsicht der Bischöfe. Als Lehrer wurden nur Katholiken zugelassen. Thun verstand es aber, die Universität aus dem Konkordat herauszuhalten und Professoren aufgrund ihrer wissenschaftlichen Qualifikation zu berufen.

Im Zuge der Thun‘schen  Reform wurden die seit dem Mittelalter in der Universitätsorganisation verankerten vier „Akademischen Nationen“ 1849 aus dem Universitätsverband definitiv ausgeschieden. Ihren Prokuratoren war immer noch die Wahl des Rektors vorbehalten gewesen. Nach der Abtrennung von der Universität existierten diese Korporationen zum Teil einige Zeit als religiös-karitative Vereine weiter.

Die Thun’sche Reform begründete auf der Basis der Lehrfreiheit, der Verbindung von wissenschaftlicher Forschung und Lehre (Seminare, Institute, Kliniken) und der Berufsbildung (Ärzte, Juristen, Lehrer)  die „neue Ordinarienuniversität“. Im Gegensatz zur staatlich gelenkten Universität des Vormärz wurde ein großes Maß an akademischer Selbstverwaltung im Bereich von Unterricht, Forschung und Lehre verwirklicht. Die Berufung der Professoren, Bestätigung der Privatdozenten, Erlassung der Studien-und Prüfungsordnungen sowie die Budgethoheit behielt sich der Staat weiterhin vor.

Obwohl das provisorische Organisationsgesetz zunächst nur für vier Jahre gedacht war, blieb es 23 Jahre lang in Kraft und wurde erst durch das 1873 erlassene Organisationsgesetz für die österreichischen Universitäten abgelöst. Mit dem dadurch verfügten Ausscheiden der Doktorenkollegien aus dem Verband der Universitäten verschwanden die letzten Reste der mittelalterlichen Korporationsverfassung.