Die Zweite Wiener Medizinische Schule

19. Jhdt.–1938

Unter dem Begriff „Zweite Wiener Medizinische Schule“ gelangte die Heilkunde an der Universität Wien zu Weltgeltung. Die Zeit des Vormärz bildete dabei eine Übergangsepoche, in der zwar das Epigonale der ersten Blütephase des 18. Jahrhunderts vorherrschte, die kommenden Umwälzungen jedoch bereits vorbereitet wurden.

Die Grundlage bildeten die anatomischen Studien, welche vom Pathologen Carl Freiherr von Rokitansky (1804-1878) gemeinsam mit dem Internisten Joseph Skoda (1805-1881) und einigen anderen ab den 1830er Jahren in großem Stil durchgeführt wurden. Als entscheidend erwiesen sich der systematische Vergleich von Sektionsbefunden mit der klinischen Symptomatik und den physikalischen Untersuchungsergebnissen von Perkussion und Auskultation. Daraus konnte eine fundamental neue „Theorie der Medizin“ entwickelt werden, in der nicht mehr die aus der Antike übernommene „Vier-Säfte-Lehre“ (Humoralmedizin), sondern der klinische Lokalbefund in Korrelation mit den pathologischen Gewebsveränderungen die Diagnosestellung bestimmte.

Rokitanskys Abhandlungen konzentrierten sich auf die Untersuchung von gesetzmäßigen Zusammenhängen zwischen anatomischen Veränderungen und klinischen Symptomen sowie den Versuch, in den Krankheitsprozess mit seinen pathologischen Erscheinungen durch ganze Serien von Leichenbefunden Einblick zu gewinnen. Sein anatomisches Handbuch (drei Bände, 1842-1846) wurde wegen seiner Methodik und Darstellungsweise weltberühmt und schuf der Medizin durch die nach ganz neuen Gesichtspunkten im Geiste der Klinik bearbeitete pathologische Anatomie eine neue Grundlage.

Der Vizedirektor des medizinischen Studiums, Ludwig Frh. von Türkheim (1777-1846), hatte schon im Vormärz eine Reihe von Neuerungen in Forschung und Lehre durchgesetzt. Unter seiner Ägide entstanden neue Kliniken und Lehrstühle; 1842 ermöglichte er Rokitansky und Skoda Studienreisen nach Paris, um dort die Errungenschaften der französischen Medizin kennenzulernen. Türkheim legte mit seinen Maßnahmen einen Grundstein zur weiteren Entwicklung der Wiener Medizin.

Mit den Fortschritten einher ging eine Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Fachbereiche. Die moderne Dermatologie wurde von einem früheren Assistenten Skodas, Ferdinand von Hebra (1816-1880), auf streng naturwissenschaftlicher Basis begründet. Hebra grenzte die Haut als eigenes menschliches Organ ab, deren Krankheiten er im Sinne Rokitanskys erforschte und in einer neuen standardisierten Nomenklatur beschrieb.

Auch in der Geburtshilfe wirkte sich die neue, naturwissenschaftlich fundierte Forschung aus. Der Assistent Ignaz Philipp Semmelweis (1818-1865) entwickelte eine neue Theorie des Kindbettfiebers, die in der Ärzteschaft heftige Kontroversen auslöste: Stimmte man ihr zu, dann bedeutete dies das Eingeständnis, dass obduzierende Ärzte selbst Krankheitsüberträger waren. Obwohl die Avantgarde der Wiener Medizin, so auch Rokitansky, Semmelweis unterstützten, scheiterte dessen Karriere in Wien an der Gegnerschaft konservativer Professoren.

Viele weitere Disziplinen erhielten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wichtige Impulse, etwa die Psychiatrie, die Neurologie, die Augenheilkunde, die Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, die Gynäkologie, und die Innere Medizin. Besonders spektakulär waren die Fortschritte im Bereich der Chirurgie. Schon 1840 hatte Franz Schuh (1804-1865) die weltweit erste erfolgreiche Herzbeutelpunktierung durchgeführt; sieben Jahre später wandte er die zuvor in Boston entwickelte Äthernarkose erstmals in Wien an. Die Spitzenleistungen der Wiener Chirurgie verkörperte Theodor Billroth (1829-1894), der die konsequente Asepsis durch „Reinlichkeit bis zur Ausschweifung“ einführte. Zu seinen bekanntesten Errungenschaften zählt die von ihm erstmals vorgenommene operative Entfernung eines Magenkarzinoms (Pylorusresektion, 1873). Seine Schule bildenden Methoden verbreiteten sich in den folgenden Jahrzehnten in ganz Europa und gaben auch wichtige Impulse für die operative Ausrichtung anderer Fachrichtungen, die sich teilweise aus der Chirurgie herausgebildet hatten, wie etwa Urologie, Orthopädie, oder Gynäkologie.

Im Bereich der Inneren Medizin besaß die Universität Wien mit dem so wie Billroth aus Preußen stammenden Internisten Hermann Nothnagel (1841-1905) einen führenden Vertreter dieses Faches. Sein Schüler Guido Holzknecht (1872-1931) widmete sich schon während seiner Studienzeit der Anwendbarkeit von Röntgenstrahlen in Diagnostik und Therapie und wurde zu einem Pionier der Radiologie. Das von ihm errichtete und geleitete Zentral-Röntgeninstitut im Allgemeinen Krankenhaus wurde zur Ausbildungsstätte für Radiologen aus der ganzen Welt.

Die internationale Bedeutung der Wiener Medizin schlug sich auch in der Vergabe von Nobelpreisen im 20. Jahrhundert nieder. 1914 erhielt der Otologe Robert Bárány (1876-1936), ein Mitarbeiter und Schüler von Adam Politzer (1835-1920), den Medizin-Nobelpreis für seine experimentelle Erforschung der Funktion des Gleichgewichtsorgans. In der chronologischen Folge der Preisträger erscheint 1927 als nächster der Neurologe und Psychiater Julius Wagner-Jauregg (1857-1940), dessen methodisch-wissenschaftliche Wurzeln in der experimentellen Pathologie lagen. Um 1917 erforschte er die Methode zur Heilung der progressiven Paralyse (der Spätform der Lues) durch Fieber, das er durch Impfung mit Malariaerregern hervorrief. Die Malariatherapie blieb viele Jahre lang die wirksamste Maßnahme zur Linderung oder sogar Heilung dieser bis dahin nicht therapierbaren Krankheit.

Dem „Mutterfach“ der Zweiten Wiener Medizinischen Schule, der pathologischen Anatomie, entstammte ursprünglich auch der Nobelpreisträger Karl Landsteiner (1868-1943), dem als Assistent bei Anton Weichselbaum (1845-1920) im Zuge seiner serologischen Forschungen um 1900 die Entdeckung der Blutgruppen gelang. Erst 1930, als Landsteiner bereits in den USA wirkte, wurde er dafür mit dem Medizin-Nobelpreis geehrt. 1936 erhielt Otto Loewi (1873-1963) ebenfalls diesen Preis für den experimentellen Nachweis der chemischen Übertragung von Nervenimpulsen. Loewi hatte jedoch nur eine kurze Zeitspanne seiner wissenschaftlichen Laufbahn an der Universität Wien zugebracht (1905-1909) und war zur Zeit der Preisverleihung bereits viele Jahre Professor in Graz. 1938 wurde er dazu erpresst, sein Preisgeld dem Deutschen Reich zu übertragen, damit ihm die Emigration gestattet wurde. Obwohl die Wiener Medizin auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg über hohe Reputation verfügte, markiert der „Anschluss“ 1938 das Ende eines wissenschaftlichen Höhenfluges, der zu einem beträchtlichen Teil jüdischen Ärzten geschuldet war, und der Studierende und Jungärzte aus aller Welt zur Ausbildung nach Wien geführt hatte.

  • Theodor Billroth im Hörsaal

    Theodor Billroth wurde 1867 als Vorstand der II. Chirurgischen Klinik des Allgemeinen Krankenhauses nach Wien berufen. Ihm gelang 1881 die erste...

    BestandgeberIn: Archiv der Universität Wien UrheberIn: Adalbert Franz Seligmann Signatur: 105.P 25
    1890

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Thomas Maisel

Zuletzt aktualisiert am : 14.03.2021 - 20:08

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