Franziska Seidl, tit. o. Univ.-Prof. Dr. phil.
Erste Privatdozentin im Bereich Physik an der Universität Wien
Ehrungen
Ehrung | Titel | Datierung | Fakultät | |
---|---|---|---|---|
Stipendien/Preise/Stiftungen | Franziska Seidl Förderprogramm | 2024 |
Das Franziska Seidl Förderprogramm wurde 2024 an der Universität Wien begründet. Im Auftrag des Rektorats schreibt die Abteilung Organisationskultur und Gleichstellung im Rahmen eines neuen Frauenförderangebots halbjährlich drei befristete Stellen (je 6 Monate) für Postdoktorandinnen insbesondere an jenen Fakultäten/Zentren der Universität Wien aus, an denen Frauen deutlich unterrepräsentiert sind. Mit dem Förderprogramm werden Wissenschafterinnen der Universität Wien beim Abschluss von Forschungsprojekten, Finalisieren/Überarbeiten/Zweiteinreichungen von Forschungsanträgen und/oder beim Fertigstellen von Publikationen unterstützt. Das neue Franziska Seidl Förderprogramm löste das Marie Jahoda Stipendium ab, das mit 2024 eingestellt wurde. The Franziska Seidl Funding Program was founded at the University of Vienna in 2024. On behalf of the Rectorate, the Culture and Equality unit offers three fixed-term positions (6 months each) for female postdoctoral researchers every six months as part of a new program for the advancement of women. The positions will especially be awarded in those faculties/centers of the University of Vienna where women are significantly underrepresented. The program supports female scientists at the University of Vienna in completing research projects, finalizing / revising / resubmitting research proposals and/or completing publications. |
|
Raumbenennung | Franziska-Seidl-Praktikum | 2025 |
Die Fakultät für Physik beantragte, die Räume des Schulversuchspraktikums in der Porzellangasse 4 in Franziska-Seidl-Praktikum umzubenennen. Der Senat der Universität Wien stimmte der Umbenennung am 23. Jänner 2025 zu. |
- Physik
- Experimentalphysik
- Philosophische Fakultät
Franziska Vicari war eine Tochter des Rauchfangkehrermeisters Franz Vicari (1854–1898) und dessen Ehefrau Maria Anna, geborene Anton (1851–1928). Gemeinsam mit ihrer Schwester Marie (1887–1963) wuchs sie in ihrem Elternhaus in Wien 1, Annagasse 6 (Herzogenburgerhof), in einem gehobenen bürgerlichen Umfeld auf. Sie besuchte Volks- und Bürgerschule, Handelsschule sowie Fortbildungskurse. Im Alter von 19 Jahren heiratete sie am 19. September 1911 den elf Jahre älteren Gymnasiallehrer für Physik und Mathematik Wenzel Seidl (1881–1916) und zog mit ihm nach Mährisch-Weißkirchen (heute: Hranice na Moravě/Tschechien). Daher wurde sie nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie 1918 tschechoslowakische Staatsbürgerin. Nachdem ihr Ehemann 1916 in einer der Isonzo-Schlachten gefallen war, kehrte Franziska Seidl in ihr Elternhaus zurück. Sie lebte mit ihrer Mutter, die das Rauchfangkehrergewerbe ihres verstorbenen Mannes übernommen hatte, und ihrer Schwester, die als Lehrerin arbeitete, zusammen. Alle drei Frauen wohnten zeit ihres Lebens in diesem Haus.
Franziska Seidl absolvierte 1918 am k.k. Franz Joseph-Realgymnasium in Wien 1, Stubenbastei, als Externistin die Reifeprüfung. Ab dem Wintersemester 1918/19 studierte sie an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien Physik, Mathematik und Chemie, u.a. bei den Physikern Felix Ehrenhaft, Gustav Jäger, Ernst Lecher, Hans Thirring und Stefan Meyer und bei den Mathematikern Philipp Furtwängler und Gustav Escherich. Noch vor ihrer Promotion wurde Seidl Anfang 1923 als „Hilfsassistent“ Lechers am I. Physikalischen Institut angestellt, wo sie ihre gesamte wissenschaftliche Karriere verbringen sollte. Mit der Dissertation „Über eine Messung kurzer Zeiten mit dem Helmholz-Pendel“ promovierte sie am 7. Dezember 1923 in Physik bei Lecher zum Doktor der Philosophie. Wenig später, Anfang 1924, wurde sie zum „Assistenten“ – bis zum Ende ihrer Karriere war lediglich die männliche Form gebräuchlich – befördert. In dieser Funktion assistierte sie bei Vorlesungen und betreute später auch wissenschaftliche Arbeiten für fortgeschrittene Studierende sowie Dissertationen. Angeregt durch ihren Lehrer Ernst Lecher, der Anfang der 1920er-Jahre als Obmann des 1894/95 gegründeten „Vereins zur Förderung des physikalischen und chemischen Unterrichts in Wien“ fungierte, widmete sich Seidl verstärkt der Ausbildung der Lehramtskandidat*innen sowie der Fortbildung von Lehrer*innen im Fachbereich Physik.
In ihren Forschungen untersuchte Seidl im Bereich der Festkörperphysik zunächst vor allem die elektrischen Eigenschaften von Kristallen (Piezoelektrizität, Leitfähigkeit) und die Veränderung dieser Eigenschaften durch Röntgenstrahlen. Diese Analysen dehnte sie später auf verschiedene Materialien aus (Isolatoren, Dielektrika). Sie entwickelte ein membranloses Kristalltelefon, für das sie das Patent erwarb. Über diese „neue Methode zur membranlosen Umsetzung elektrischer Schwingungen in akustische“ verfasste sie einen Artikel in der 1927 veröffentlichten Festschrift anlässlich „Dreißig Jahre Frauenstudium“. Neben den vier ersten habilitierten Frauen an der Universität Wien – der Romanistin Elise Richter, den Germanistinnen Christine Touaillon und Marianne Thalmann sowie der Psychologin Charlotte Bühler – und anderen Pionierinnen stellte Franziska Seidl in diesem Band ihre Forschung vor. Im Sommer 1931 absolvierte sie einen Forschungsaufenthalt in einem Werkslaboratorium der Firma Siemens in Berlin, wo sie eine Fortbildung in röntgentechnischen Untersuchungen erhielt.
Am 2. Juni 1932 suchte Franziska Seidl um Verleihung der Venia legendi im Fach Physik an. Die Fakultätskommission beschloss am 3. Dezember 1932 einstimmig, ihr die Lehrbefugnis mit Einschränkung der venia auf das Gebiet der Experimentalphysik zu verleihen. Das Bundesministerium bestätigte den Beschluss am 4. Jänner 1933. Seidl war damit die erste Frau, die an der Universität Wien im Bereich Physik habilitiert wurde, und die 11. Frau, die an der Universität Wien eine Privatdozentur innehatte. Ab Wintersemester 1933/1934 hielt sie regelmäßige Vorlesungen und Praktika. Als Assistentin wurde sie regelmäßig wiederbestellt.
Nach dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland wurden im Fachbereich Physik zahlreiche Lehrende aus rassistischen und/oder politischen Gründen von der Universität Wien vertrieben, u. a. die Professoren Felix Ehrenhaft, Stefan Meyer und Hans Thirring. Franziska Seidl konnte ihre Karriere fortführen. Nach Vorlage eines Strafregisterauszugs, eines amtsärztlichen Zeugnisses sowie einer politischen Befürwortung durch den NSD-Dozentenbundführer der Universität Wien, Arthur Marchet, ernannte das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) in Berlin sie am 18. Oktober 1939 zum „Dozenten neuer Ordnung“.
Im Herbst 1938 absolvierte Seidl einen Forschungsaufenthalt am renommierten Röntgenlaboratorium von Prof. Ernst Schiebold an der Universität Leipzig, um Röntgenfeinstrukturuntersuchungen durchzuführen. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit wandte sie sich als eine der ersten (experimentellen) Forscher*innen verstärkt dem Ultraschall zu. Mit Ultraschall untersuchte sie die Ausbreitung des Schallwellenfeldes in Flüssigkeiten, dispergierende und kolloidchemische Wirkungen und förderte den Einsatz des Ultraschalls in Schulversuchen sowie in der Werkstoffprüfung. Am Physikalischen Institut richtete sie ein Ultraschall- und Röntgenlaboratorium ein.
Besonders intensiv wirkte Seidl in der Lehre des Instituts mit. Während einer längeren Krankheit von Prof. Egon Schweidler vertrat Seidl ihn bei dessen Vorlesungen. Um sie von sonstigen Verpflichtungen eines Assistenten zu entlasten und ihre Arbeit auf die Lehre zu konzentrieren, beantragte Schweidler im Oktober 1940, Seidl zum „Diäten-Dozenten“ zu ernennen, was im Februar 1941 vom REM genehmigt wurde.
Gerhard Kirsch, der neuberufene Ordinarius für Physik und Leiter des I. Physikalischen Instituts, beantragte im Mai 1941, Franziska Seidl – die für Wissenschaft, Unterricht und Forschung lebe – den Titel eines außerplanmäßigen „Professors“ zu verleihen. Die Parteikanzlei der NSDAP in München leitete im Zuge dessen politische Nachforschungen ein. Dozentenbundführer Marchet gab folgende Auskunft:
„[…] Politisch ist sie als Frau völlig harmlos. Sie hat sich wohl nie für Politik interessiert und ist in dieser Beziehung nie irgendwie hervorgetreten.“
(Arthur Marchet an Gaupersonalamt (Abt. Polit. Beurteilung), 12.1.1942, in: OeStA/AdR, Zivilakten NS-Zeit, Gauakt 248.970)
Auch die Gauleitung Wien betonte Seidls Engagement für die Wissenschaft und sah dieses als Grund für ihre politische Inaktivität, beurteilte sie jedoch als politisch einwandfrei, war sie doch immerhin Mitglied in NSV (NS-Volkswohlfahrt), RDB (Reichsbund der Deutschen Beamten), NSKOV (NS-Kriegsopferversorgung), NSLB (NS-Lehrerbund, DRK (Deutsches Rotes Kreuz) und RLB (Reichsluftschutzbund). Am 24. April 1942 wurde Seidl zum außerplanmäßigen „Professor“ ernannt. Mit ihrer Beförderung übernahm sie die neu eingeführte Vorlesung „Physik für Mediziner“, die sie bis Kriegsende abhielt.
Nachdem Institutsvorstand Kirsch 1945 aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft entlassen worden war, beauftragte die Fakultät Franziska Seidl mit der interimistischen Leitung des I. Physikalischen Institutes. Sie sollte das Institut bis zur Rückkehr des emigrierten Professors Felix Ehrenhaft im Jahr 1947 leiten. Ab 1945 übernahm Seidl zudem einen großen Teil der Lehre, darunter die Hauptvorlesungen für Experimentalphysik sowie Physikalische Praktika für Physiker*innen bzw. Lehramtskandidat*innen einerseits und Pharmazeut*innen andererseits.
Besonders widmete sich Seidl ab 1945 der Aus- und Weiterbildung von Physiklehrer*innen. Bereits im Juni 1945 wirkte sie an der Neubegründung des Vereins zur Förderung des physikalischen und chemischen Unterrichts mit, suchte Vortragende und stellte im Institut zwei Räume für Lehrmittel und Experimente zur Verfügung. Am 16. März 1946 erfolgte ihre offizielle Wahl zum „Obmann“ des Vereins. An der Universität Wien leitete sie ab 1945 auch das Schulversuchspraktikum, das sie zu einem „Praktikum für Schulversuche mit Experimentiervorführungen für Lehramtskandidaten“ ausbaute, und war als Prüferin für das Lehramt an Schulen tätig. Als „Vereinsobmann“ initiierte und organisierte Seidl im Mai 1947 die erste Fortbildungswoche für im Beruf stehende Physiklehrer*innen mit Vorträgen, Unterrichtsvorführungen und Exkursionen. Die Fortbildungswochen wurden fortan jährlich abgehalten. Neben Seidl selbst wirkten u. a. auch Berta Karlik, Engelbert Broda, Hans Thirring und Karl Lintner daran mit.
Aufgrund ihrer Verdienste wurde ihr am 13. Juli 1947 der Titel außerordentlicher „Professor“ verliehen – im Vorfeld hatte das Bundesministerium für Unterricht offenbar eine politische Überprüfung von Seidls Vergangenheit durchgeführt und Einsicht in ihren Gauakt genommen. Als „Hochschulassistent“ wurde Seidl regelmäßig wiederbestellt.
Nach Erreichen des Pensionsalters für Staatsangestellte erhielt Seidl am 27. Jänner 1958 die neugeschaffene außerordentliche Professur für Experimentalphysik. Auch international fand Seidls Arbeit Anerkennung: Sie reiste für Gastvorträge ins Ausland und wurde mit der Organisation und Leitung einer „Internationalen Fachtagung für den Physik- und Chemieunterricht an den mittleren Lehranstalten“ im Rahmen der OEEC (Organisation for European Economic Co-operation, heute Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD) beauftragt, die im Mai 1960 in Wien und Salzburg abgehalten wurde.
Auf Antrag von Prof. Georg Stetter wurde Seidl am 11. Februar 1963 der Titel eines ordentlichen „Professors“ verliehen. Noch im gleichen Jahr, am 30. September 1963, wurde sie nach Absolvierung eines Ehrenjahres endgültig emeritiert. Trotz Pensionierung war sie weiterhin als Prüferin für das Lehramt an Mittelschulen tätig. 1966 legte sie die Leitung des Vereins zurück und wurde zu dessen Ehrenpräsidentin ernannt, wirkte aber noch an der Vorbereitung und Gestaltung der Fortbildungswochen 1967 und 1968 mit.
Franziska Seidl starb am 14. Juni 1983 in Wien und wurde auf dem Wiener Zentralfriedhof im Familiengrab bestattet.
Ein Teilnachlass Seidl befindet sich in der Österreichischen Zentralbibliothek für Physik & Fachbereichsbibliothek Chemie, ein weiteres Nachlassfragment im Archiv der Universität Wien.
Ehrungen
Auf Initiative der Vorstände der Physikalischen Institute war Franziska Seidl bereits 1968 mit dem Großen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet worden.
Am 23. Juni 1992 fand eine Gedenkveranstaltung anlässlich ihres 100. Geburtstages statt, bei der Prof. Othmar Preining Seidls Leben und Werk, Erinnerungen und Experimente präsentierte.
Im Jahr 2018 wurde in Wien-Donaustadt (22. Bezirk) die Franziska-Seidl-Straße nach ihr benannt. Seit 2024 gibt es an der Universität Wien das Franziska Seidl Förderprogramm, das die Abteilung Organisationskultur und Gleichstellung alle sechs Monate an jeweils drei Postdoktorandinnen vergibt. 2025 beschloss der Senat der Universität Wien zudem, die Räume des Schulversuchspraktikums der Fakultät für Physik in der Porzellangasse 4 in Franziska-Seidl-Praktikum umzubenennen.
> Teilnachlass in der Österreichischen Zentralbibliothek für Physik & Fachbereichsbibliothek Chemie (abgerufen am 18.04.2025)
Archiv der Universität Wien, Senat S. 304.1181 und S. 265.5.151 (Personalblätter), Senat S. 187.805 (Meldungsbuch 1918), PH PA 3142 (Personalakt), Inst. Exp.-Physik PA 104 (Personalakt), PH RA 5602 (Rigorosenakt).
Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik, Zivilakten NS-Zeit, Gauakt 248.970.
Zuletzt aktualisiert am 24.04.2025 - 12:12