Die Wiener mathematisch-astronomische Schule im Mittelalter
Viri mathematici quos inclytum Viennense gymnasium ordine celebres habuit – Mathematiker, welche die ruhmreiche Wiener Universität als berühmte Vertreter ihres Standes hatte: Mit diesen Worten begann der Wiener Professor Georg Tannstetter (1482-1535) im Jahr 1514 seinen Aufsatz Viri Mathematici über seine Vorgänger an der Wiener Universität, nicht ohne darauf zu vergessen, am Ende auch seinen eigenen Namen zu erwähnen: „Die Kenntnisse und Lehren meiner Lehrer als Vorbild vor Augen, habe ich nun […] die Lehrkanzel für die Fächer der Mathematik inne.“
Tannstetter wurde mit diesem Werk zu einem Pionier der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, und begründete damit zugleich den bis heute anhaltenden Ruf der Wiener Universität als frühes europäisches Zentrum mathematisch-astronomischer Forschung, in dessen Tradition er sich selbst verortete.
Tannstetters chronologische Auflistung, heute würde man sie als bio-bibliographisches Personenverzeichnis betrachten, bringt all jene Namen, die auch heute noch im Zusammenhang mit der Wiener mathematisch-astronomischen Schule genannt werden, und noch viele andere, die inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten sind.
An erster Stelle nennt er den Theologen Heinrich von Langenstein, der in vielerlei Hinsicht für die Wiener Universität von Bedeutung war: Von Herzog Albrecht III. nach Wien berufen, gestaltete er die Neuorganisation des Wiener Studiums entscheidend mit, und gilt deshalb als einer der Begründer des Aufschwunges, den die Universität seit Ende des 14. Jahrhunderts erlebte. Für Tannstetter war er auch jener Mann, der als Verfasser von einschlägigen Werken die Astronomie in die Universität einführte. Dem kann man bestenfalls hinzufügen, dass schon der Gründungsrektor von 1365, Mag. Albert von Sachsen, so wie Langenstein ein Absolvent der Universität Paris, Schriften zu Arithmetik und Geometrie verfasst hatte, die noch im 15. Jahrhundert zum Lehrplan der Wiener Artistenfakultät zählten.
Das „Dreigestirn“ der Wiener Astronomie im Mittelalter
Als eigentlicher Begründer der Wiener astronomischen Schule gilt bis heute Johannes von Gmunden (um 1380/84-1442), der von Tannstetter gleich nach Langenstein genannt wird. Er studierte wohl ab 1400 an der Universität Wien, wo er um 1406 den Magistergrad erwarb und dem Lehrkörper der Artistenfakultät angehörte. Erst relativ spät, ab 1416, behandelte er in seinen Vorlesungen regelmäßig Mathematik und Astronomie, was mehr über die Organisation des Studienbetriebs (Regenzsystem) als über seine wissenschaftlichen Interessen aussagt. Der Ruf Johannes‘ von Gmunden gründet auf seinen astronomischen Tafelwerken, seinen Kalendern, die sich großer Beliebtheit erfreuten, und Anleitungen zum Bau astronomischer Instrumente. Sein Tractatus de minutiis physicis (1515 von Georg Tannstetter gedruckt) diente lange Zeit als Lehrbuch für das Rechnen mit Sexagesimalzahlen an der Universität Wien. Johannes von Gmunden studierte auch Theologie und empfing 1417 die Priesterweihe; ab 1425 gehörte er dem Wiener Domkapitel an, befasste sich jedoch weiterhin vornehmlich mit Mathematik und Astronomie. An der Artistenfakultät war er 1413 und 1423 Dekan und führte die Bau-Aufsicht für den mittelalterlichen Fakultätsneubau (Nova Structura, 1423-1425). In seinem Testament (1435) vermachte er der Bibliothek der Artistenfakultät Bücher und astronomische Instrumente.
Von noch größerer Bedeutung war Georg Aunpeck von Peuerbach (1423-1461), der Johannes von Gmunden vielleicht noch persönlich begegnet war, jedoch nicht zu seinen Schülern gezählt werden kann. Peuerbach war durch seinen Italienaufenthalt bereits vom Humanismus geprägt und wurde von Zeitgenossen für seinen mustergültigen lateinischen Stil und seine Hexameter-Verse gerühmt. Seinen bis heute anhaltenden Ruhm verdankt er jedoch vor allem dem Werk Theoricae novae planetarum, das nach seinem Tod durch seinen Freund und Schüler Johannes Regiomontanus 1472 auch im Druck herausgebracht wurde und sich als Standardwerk im Lehrplan europäischer Universitäten lange behaupten konnte. Seine Planetentheorien beeinflussten, vermittelt durch ihren Krakauer Kommentator Adalbert Blar(er) von Brudzewo, auch Kopernikus, und können so als Vorstufe für den Durchbruch zum heliozentrischen Weltbild angesehen werden.
Peuerbachs Ruf als Astronom war so groß, dass er vom Kurienkardinal Johannes Bessarion 1460 mit der Neubearbeitung der Epitoma in Almagestum des Ptolemäus beauftragt wurde. Als der nahende Tod Peuerbach an der Vollendung dieser Arbeit hinderte, übertrug er sie seinem Schüler Regiomontanus. Peuerbach wurde im Stephansdom beigesetzt; die Inschrift seines nicht erhaltenen Grabes hat Tannstetter in den Viri mathematici abgedruckt. An Stelle des verschollenen Epitaphs stiftete die Universität Wien am 12. März 1999 anlässlich der Feier des Gründungstages eine Gedenktafel für Peuerbach im Apostelchor von St. Stephan.
Humanismus und astronomisch-mathematische Studien
Als Germaniae decus (Zierde Deutschlands) stellt Tannstetter Johannes Regiomontanus (1436-1476) vor: Von allen würde er für den neuen Stifter seiner Wissenschaft (der Astronomie) angesehen. Regiomontanus war durch elf Jahre mit der Universität Wien verbunden, wo er sich nach kurzem Studienaufenthalt in Leipzig 1450 immatrikulierte. Dass er zu diesem Zeitpunkt erst vierzehn Jahre alt war, stellte keine Besonderheit dar; die meisten seiner Kommilitonen an der Artistenfakultät waren wohl nicht viel älter. Er wurde zum Schüler und Freund des Georg von Peuerbach, dessen Ruf als bedeutender Astronom ihn wohl zum Studium in Wien animiert hatte. 1457 wurde Regiomontanus selbst zum Magister promoviert und nahm am Lehrbetrieb teil; eine seiner ersten Vorlesungen befasste sich mit dem ersten Buch des Euklid. Die Beschäftigung mit den Schriften griechischer Mathematiker und Astronomen (u.a. Archimedes, Ptolemäus) blieb einer seiner Schwerpunkte. Nach Peuerbachs Tod 1461 verließ Regiomontanus im Gefolge des Kardinals Bessarion die Universität Wien, um sich der Neubearbeitung des Almagest zu widmen, in der er sich deutlich gegen die fehlerhafte Übersetzung durch Georg von Trapezunt (1396-1484) ins Lateinische wandte. Tannstetter überliefert das Gerücht, wonach die Söhne des Trapezunt deshalb Regiomontanus aus Rache 1476 in Rom durch Gift ermordet hätten, räumt jedoch selbst ein, dass er auch an einer Seuche gestorben sein könnte. Dies gilt heute als wahrscheinlichste Todesursache.
Peuerbach und Regiomontanus stehen am Beginn einer Entwicklung, in der sich die Studia humanitatis in Verbindung mit mathematisch-astronomischen Studien an der Universität Wien etablierten und in Form des Collegium poetarum et mathematicorum 1501 erstmals eine gemeinsame institutionelle Grundlage erhielten. In diesem Kontext finden wir dann auch Georg Tannstetter. Er war ein Schüler des Andreas Stiborius (1464-1515), der als Professor der Mathematik seit 1502 diesem Kollegium angehört hatte. Auch Tannstetter unterrichtete ab 1504 an der Artistenfakultät, und spätestens ab 1512/13 wird er als Inhaber eines Lehrstuhles für Mathematik und Astronomie bezeichnet.
So wie seine Vorgänger war Tannstetter ein renommierter Gelehrter seiner Zeit, und wie viele Humanisten in mehreren Fachgebieten versiert. Er absolvierte in Wien auch ein Medizinstudium und wurde wohl unmittelbar darauf sogar Leibarzt Kaiser Maximilians I. Im Dienste von Herrschern tätig zu sein war eines der Charakteristika des neuen Gelehrtentyps, das auch bei Peuerbach und Regiomontanus beobachtet werden kann. Ihr hohes Ansehen, das in den Viri mathematici für die Nachwelt dauerhaft festgeschrieben wurde, machte Wien im 15. Jahrhundert zu einem der attraktivsten Studienorte in Europa. Das modernisierte Weltbild der Renaissance verdankt ihnen entscheidende Impulse.
Zuletzt aktualisiert am : 21.01.2021 - 10:44
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Astronomie | Die Wiener Universitätssternwarte im Wandel der Zeit
1755–1900 -
Die Artes liberales
1365–18. Jhdt.