Peter George Julius Pulzer, Prof. Dr., BA, MA, BSc

20.5.1929 – 26.1.2023
geb. in Wien, Österreich

Ehrungen

Ehrung Titel Datierung Fakultät
Ehrendoktorat Dr. phil. h.c. 2012/13 Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät

Peter Georg Julius Pulzer wurde am 20. Mai 1929 als Sohn des Ingenieurs Felix Pulzer und seiner Frau, der Handarbeitslehrerin Margarete geb. Breiner in Wien geboren. Nach dem „Anschluss“ Österreichs emigrierte die Familie im Februar 1939 nach Großbritannien. In London besuchte er zwischen 1940 und 1947 die grammar school. Anschließend absolvierte er ein Studium der Geschichte am King’s College der Cambridge Universität, das er 1950 mit dem akademischen Grad eines Bachelor of Arts (BA) abschloss. Nach der Ableistung seines Militär­dienstes in der Royal Air Force kehrte er nach Cambridge zurück, erhielt dort 1954 den Master of Arts (MA) in Geschichte und im selben Jahr außerdem nach dreijährigem Studium der Nationalökonomie an der University of London den Bachelor of Science (BSc) in Ökonomie. Er promovierte 1960 an der Cambridge University mit einer Dis­sertation über den politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich, für die er u.a. mehrere Monate in Wiener Archiven und Bibliotheken geforscht hatte.

Ab 1957 unterrichtete Pulzer als Tutor und Dozent in Politics and Modern History an Colleges der Universität Oxford, darunter am Magdalen College (bis 1962) und am Christ Church College (bis 1984). 1985 wurde er als Gladstone Professor of Government and Public Administration and Fellow an das All Souls College in Oxford berufen. Seine Emeritierung erfolgte 1996. 1992 war er eine der Schlüsselfiguren der Grün­dung des „Europaeum – An association of leading European universities“, von 1996 bis 1999 Professorial Fellow am Institute for German Studies der University of Birmingham. Von 1993 bis 1997 war Pulzer parallel Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Historisches Kolleg, München, und an­schließend bis 2009 Vorsitzender des Academic Advisory Committee am Centre for German-Jewish Studies der University of Sussex. Er wirkte als Gastprofessor an der School of Advanced International Studies, Washington DC, der University of California, Los Angeles, dem Geschwister-Scholl-Institut der Universität München, der Technischen Universität Dresden, am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Leipzig.

Derzeit ist Prof. Peter Pulzer Emeritus Fellow am All Souls College in Oxford. Seit 1998 ist er außerdem Vor­sitzender des Leo Baeck-Institute in London. Er ist Ehren-Vizepräsident der International Association for the Study of German Politics und Ehrenmitglied der European Affairs Society an der University of Oxford. 2004 erhielt Pulzer das deutsche Bundesverdienstkreuz, 2008 das Große Silberne Ehrenzeichen der Republik Österreich. 2007 wurde ihm ein Ehrendoktorat der Universität Innsbruck verliehen, 2010 erhielt er die Leo Baeck-Medaille.

Wissenschaftliche Leistungen

Peter Pulzer gehört zu den bedeutendsten und international bekanntesten Historikern und Politikwissen­schaftern. Er hat zahlreiche Arbeiten zur Europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ver­öffentlicht und gilt als Experte in den Bereichen Antisemitismusforschung und Parteiensysteme in Westeuropa. Er ist der Autor einschlägiger Bücher und Artikel. Zunächst sind Peter Pulzers in der Fachwelt viel rezipierte Beiträge zur deutschen und österreichischen Geschichtsforschung im 19. und 20. Jahrhundert, insbesondere zur Geschichte der Juden, zu nennen.

1964 erschien erstmals die später zahlreich übersetzte und mehrfach aufgelegte Monografie „The rise of political antisemitism in Germany and Austria“ (weitere Auflage 1988). Dieses Buch, das auch unter dem deutschen Titel „Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914“ veröffentlicht wurde, zählt zu den Pionierarbeiten in der Antisemitismus­for­schung. Pulzer stellte darin die Frage, wie die gerade in Deutschland und Österreich die reiche Tradition „deutsch-jüdischer Kultur“ zerstört werden und der Antisemitismus überhand nehmen konnte. Er betrachtete dies nicht nur aus der Sicht der theoretisch-ideologischen Grundlagen des Antisemitismus im 19. Jh., sondern auch den antisemitischen Einfluss auf die Politik der Kaiserreiche und die Entstehung und Entwicklung der antisemitischen Bewegungen in Deutschland und Österreich. Pulzer zeigte auf, dass sich dieser neue „politische Antisemitismus” zwischen 1867 und 1914 durch seine Radikalität vom tra­di­tionell begründeten Antisemitismus abhob und sich zu einer politischen Programmatik entwickelte, auf welche der Nationalsozialismus später zurückgreifen konnte. Im Hinblick auf die spezifische öster­reichische Situation bis 1900 widmete Pulzer sein besonderes Interesse dem Versagen des Liberalismus, der Nationalitätenfrage, dem ökonomischen Antisemitismus, Georg Ritter von Schönerer und Karl Lueger sowie dem Aufschwung der christlichen Politik. Ebenso befasste er sich ausführlich mit den politischen Parteien in Deutschland und Österreich und hob in diesem Kontext auch die Unterschiede zwischen den beiden Ländern hervor. Google Scholar zählt bisher 354 Zitationen der englischsprachigen Ausgaben dieses Werks sowie 95 weitere Zitationen der deutschsprachigen Version.

In den 1960-er Jahren wandte sich Peter Pulzer politikwissenschaftlichen Studien des Wahlverhaltens zu und verfasste über zwei Jahrzehnte lang Wahlanalysen für britische Zeitungen. 1967 veröffentlichte er sein – bisher meistverkauftes – Buch „Political Representation ans Elections in Britain“. Die Publikation befasst sich mit Schlüsselaspekten des politischen Systems in Großbritannien und widmet sich den Schwerpunkten Parteien und Wahlsystem, Klasse und Wahlverhalten, Auswahl der Kandidaten, Wahlkampagnen sowie diversen theoretischen Ansätzen (vom antiken Griechenland bis zum Vik­to­ria­nischen Zeitalter) im Kontext der gegenwärtigen Situation der Parlamentsarbeit, der Rolle von pressure groups und der Partizipation von Eliten in der modernen Demokratie. Pulzer geht dabei auf zahlreiche Theorien ein, darunter jene Robert Michels, Joseph Schumpeters, Robert Dahls und Peter Bachrachs und zieht Vergleiche zwischen der britischen Situation einerseits sowie der amerikanischen und konti­nental­euro­päischen andererseits. Google Scholar zählt derzeit 218 Zitationen dieser Publikation.

Ab den 1970-er Jahren wandte sich Peter Pulzer wieder vermehrt der Antisemitismusforschung und Sozial-, Kultur- und Politik­geschichte der Juden in Deutschland und Österreich zu. Peter Pulzer legte hier den Schwerpunkt auf die Entwicklung der ethnischen Identität, kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Rollen und politischer Aktivitäten der Juden als eine Minderheit im deutschen Staat von der Revolution 1848 bis zur Machtübernahme des Nationalsozialismus 1933. Er dokumentiert ihren Aufstieg vom Rand zur Mitte des öffentlichen Lebens und ihren gesellschaftlichen Bedeutungszuwachs im Kontext von Assimilation, Emanzipation und Diskriminierung. Einen wesentlichen Bruch im Eman­zi­pations­prozess bzw. im Prozess des sozialen Aufstiegs ortete Pulzer während des Ersten Welt­kriegs, als eine Welle des Patriotismus mit neuerlichen antisemitischen Diskriminierungen einherging. Zwar waren Juden in der Weimarer Republik gesetzlich gleichberechtigt und partizipierten am politischen Leben, doch fand der Antisemitismus in dieser Zeit Eingang in fast alle politischen Parteien.

Zwei weitere Standardwerke zur politischen Geschichte Deutschlands im ausgehenden 19. Sowie be­sonders im 20. Jahrhundert veröffentlichte Pulzer in den Folgejahren, wobei er sich besonders mit den Kräften innerhalb des Landes (vor allem die politischen Parteien und die Regierungsinstitutionen) aus­einandersetzte. Ebenso hat er wichtige Beiträge zur österreichischen Zeitgeschichte geleistet und ist der Verfasser ein­schlägiger Werke. Gemeinsam mit Kurt Richard Luther gab Prof. Peter Pulzer 1998 einen vielbeachteten Sammel­band heraus, der 12 Vorträge einer 1995 an der Londoner School of Economics abgehalteten Konferenz zur Zweiten Republik Österreich dokumentierte (Peter Pulzer, Kurt Richard Luther (Hg.), Austria 1945–1995: Fifty Years of the Second Republic Ashgate 1998). Die Beiträge befassen sich mit der Entwicklung der österreichischen Politik, der nationalen Identität und der politischen Institutionen sowie der Säkularisierung der politischen Kultur. Besonderes Interesse gilt auch der Bedeutung des Endes des Kalten Krieges sowie der Mitgliedschaft in der Europäischen Union für die außenpolitischen Beziehungen. Der Band lieferte einen Überblick über den aktuellen Forschungs­stand in englischer Sprache und konnte mit der Beteiligung von HistorikerInnen, Politik­wissen­schafter­Innen, ExpertInnen für internationale Beziehungen und LiteraturhistorikerInnen einen multidisziplinären Zugang bieten. Zahlreiche österreichische WissenschafterInnen beteiligten sich daran. Im abschließenden Beitrag des Bandes argumentiert Pulzer, dass die Veränderungen der jüngsten Vergangenheit (wenn auch verspätet) eine signifikante Entwicklung von Kollektivismus zu Liberalismus zeigten.

2001 wurde eine Festschrift für Peter Pulzer von Henning Tewes und Jonathan Wright herausgegeben. Darin wurde nicht nur Pulzers 1998 erstmals veröffentlichter autobiografischer Beitrag From Danube to Isis. A Career in Two Cultures wiederabgedruckt, zwei Beiträge würdigten Pulzers Arbeiten über Libera­lismus, Anti-Semitismus und Demokratie sowie über Antisemitismus und Judentum in Deutschland und Österreich. Darüber hinaus enthält der Sammelband Artikel zu den Themenschwer­punkten Liberalismus und Antisemitismus in Österreich und Deutschland, Bürgerrecht und Menschenrechte sowie zu Kontinuität und Veränderungen seit dem Zweiten Weltkrieg.

Bezug zu Wien und Österreich

Die wissenschaftlichen Schwerpunkte, die Peter Pulzer in seiner wissenschaftlichen Laufbahn beschäftigt haben, gehören zum Kernbereich der wissenschaftlichen Aufgaben der Universität Wien. So setzt sich etwa das Institut für Zeitgeschichte der Historisch Kulturwissenschaftlichen Fakultät zentral mit dem Umgang Österreichs mit dem Nationalsozialismus auseinander und analysiert seine Folgen für Lehre und Forschung an der Universität Wien. Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im Bereich der Wissenschaft wird durch die Forschungen Pulzers entscheidend befruchtet. Auch das Institut Wiener Kreis der Universität Wien, das sich mit der Dokumentation, kritischen Rekonstruktion und Weiterentwicklung des Logischen Empirismus beschäftigt, hat sich die Beschäftigung mit dem Antisemitismus und die Aufarbeitung der historischen Ereignisse im Nationalsozialismus zum Ziel gesetzt. Dies zeigt sich an der Organisation zahlreicher Tagungen und wissenschaftlicher Publikationen zu diesem Thema.

Sein persönliches Verhältnis zu Österreich und insbesondere zu seiner Geburtsstadt Wien hat Peter Pulzer mehrfach thematisiert. In seiner Autobiografie schrieb er über sein Faible für klassische Musik aus Öster­reich und Deutschland sowie besonders die Wiener Literatur des frühen 20., Jahrhunderts (etwa Arthur Schnitzler und Karl Kraus), stellte aber auch klar, dass er Wien nicht mehr als seine„Heimatstadt“ verstand und äußerte frühe Kindheitserinnerungen an die politische Situation der 1930er Jahre – von den Februar­kämpfen über die Ermordung und das Begräbnis von Bundeskanzler Dollfuß 1934 bis hin zum „An­schluss“ 1938. Er beschrieb die Erfahrung zunehmender Diskriminierung: von der “Umschulung“ in Schule ausschließlich für jüdische SchülerInnen, über die Plünderung der Wohnung der Familie in der „Reichskristallnacht“ im November 1938 und die spätere „Arisierung“, bis hin zur erzwungenen Emigration im Alter von knapp 10 Jahren. Pulzer stellte sich auch die Frage, ob sein persönlicher Hintergrund seine wissenschaftlichen Interessen beeinflusst hatte:

„…to answer the question of the influence of my personal background on my scholarly interests? The first thing to say is that I have two backgrounds, one Central European, the other English. Though born in Vienna, I have spent seven-eighths of my life in Britain. I have been a British citizen since 1947. My main language is English; […] I shall continue to write about modern Jewish history and the German-Jewish and Austrian-Jewish experience: it is part of my life, but not the whole of my life. I shall continue to observe and write about the politics of Germany and Central Europe. But I shall prefer to do so from the comfort and safety of this side of the channel. I know where my roots are, but I also know where my home is.”
Peter Pulzer, From Danube to Isis: A Career in Two Cultures. In: Peter Alter (Hg.), Out of the Third Reich. Refugee Historians in Postwar Britain. London, New York 1998.

Im Kontext der Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Innsbruck 2007 ging Prof. Peter Pulzer abermals auf diese Verbindung ein:

„Die Umstände, in denen ich 1939 Wien verlassen musste, zwingen zu einem Versuch das Problematische und das Katastrophale in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu untersuchen und zu verstehen, aber auch den Erfolgsgeschichten und den Bedingungen für das Gedeihen eines liberaldemokratischen Staatsgefüges und einer toleranten Gesellschaft nachzugehen.”
Kopf der Woche: Prof. Dr. Peter G. J. Pulzer. In: iPoint - das Informationsportal der Universität Innsbruck, 12.03.2007

Wie bereits ausgeführt, ist Pulzer für seine Forschungen zum Antisemitismus und zur Zeitgeschichte Deutschlands und Österreichs bekannt geworden, wobei die Bedeutung seiner Arbeiten gerade in den betroffenen Ländern erst relativ spät rezipiert wurden. Zur Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen in diesem Bereich schreibt er in seiner Autobiografie:

“But the sweetest of all experiences occurred in Vienna in 1984. I was invited on the occasion of the magnifi­cent exhibition ‘Traum und Wirklichkeit’ (‘Dream and Reality?’) that dealt with fin-de-siècle Vienna. I not only took part in a long discussion on the Austrian-Jewish identity on the television talk-show ‘Club 2’, but was asked to lecture on the history of Austrian anti-Semitism in Karl Lueger’s very own City Hall. That gave me quite a thrill.”

Am 4. Dezember 2012 verlieh ihm die Universität Wien das Ehrendoktorat.

Katharina Kniefacz

Zuletzt aktualisiert am 02.04.2024 - 22:40

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