Erica Tietze-Conrat, Dr. phil.

20.6.1883 – 12.12.1958
geb. in Wien, Österreich gest. in New York

erste promovierte Kunsthistorikerin an der Universität Wien (1905)

Ehrungen

Ehrung Titel Datierung Fakultät
Denkmal „Vertriebene Kunsthistoriker*innen“ 2008/09 Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Tor der Erinnerung Tietze-Tor 2023/24 Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät

Der Senat der Universität Wien beschloss im November 2023 im Zuge der Neugestaltung der „Tore der Erinnerung“ Erica Tietze-Conrat für ihre Verdienste im Bereich der Kunstgeschichte und ihren Mann Hans Tietze für seine wissenschaftlichen Verdienste im Bereich der Kunstgeschichte, Denkmalpflege und Museumsreorganisation durch die Benennung dieses „Tores der Erinnerung“ nach beiden zu ehren.

Erica Conrat wurde 1883 als jüngstes Kind von Kaufmann und Musikliebhaber Hugo Conrat, geb. Cohn (1845-1906, 1882 Namenswechsel zu Conrat) und Ida Conrat, geb. Kohn (1857-1938), in eine großbürgerliche, kunstsinnige, assimilierte jüdische Familie in Wien hineingeboren, die zum Protestantismus konvertiert war. Sie und ihre beiden Schwestern (Bildhauerin Ilse von Twardowski-Conrat (1880–1942) und Felicia Fränkel (1881-nach 1955)) erhalten eine gute Schulbildung - sie absolvierte die Mädchenlehr- und Erziehungsanstalt Hanausek-Stonner und das Mädchengymnasium in Wien 1., Hegelgasse, wo sie 1901 auch die Reifeprüfung (Matura) ablegte.

Ab 1900 waren Frauen zum Studium an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien zugelassen worden, so konnte sie ab 1901 dort Archäologie und Kunstgeschichte studieren, letzteres bei den Protagonisten der Wiener Schule der Kunstgeschichte Alois Riegl und Franz Wickhoff. Sie promovierte am 20. Dezember 1905 als erste Frau in Kunstgeschichte an der Universität Wien (Dissertation: „Beiträge zur Geschichte Georg Raphael Donners“).
Kurz zuvor hatte sie ihren bereits 1903 promovierten ehemaligen Studienkollegen Hans Tietze (1880-1954) geheiratet und sie zogen 1907 in das von Architekten Hartwig ­Fischel für sie gebaute Haus in Wien 19., Armbrustergasse 20 und sie hatten miteinander vier Kinder: Christopher Tietze (1908-1984, Arzt und Demograph), Andreas Tietze (1914-2003, Prof. für Turkologie), Walburg Rusch (1915-2011, Grafikerin) und Veronica Tietze (1918-1927).

Sie lehrte an der Wiener Urania sowie anderen Volksbildungseinrichtungen und war freie Mitarbeiterin an der Graphischen Sammlung Albertina. Nach einer schweren Krankheit 1921, begann sie zu dichten, versuchte sich an einem Roman, schrieb acht Theaterstücke und auch 15 Erzählungen. Vor allem veröffentlichte sie seit ihrer Promotion zahlreiche Fachbeiträge und Ausstellungsberichte, war eine ausgewiesene Expertin der österreichischen Plastik des Barock und des Klassizismus und verlagerte ihre Expertise später auch auf die italienische Renaissancekunst. Sie arbeitete und publizierte auch viel gemeinsam mit ihrem Ehemann, der sich bereits 1908 habilitiert hatte, u.a. 1906-1911 an 12 Bänden der Österreichischen Kunsttopographie.

Erica Tietze-Conrat war nicht nur als Kunsthistorikerin, sondern auch als Sammlerin mit zahlreichen Vertreter*innen internationaler Museen, Kunstgelehrten, Sammler*innen, Händler*innen und zeitgenössischen Künstler*innen im regen Austausch, in Wien und international. Sie und ihr Mann waren mit zahlreichen zeitgenössischen Künstler*innen befreundet: Oskar Kokoschka malte 1909 das berühmte Doppelbildnis (Museum of Modern Art, New York), der Bildhauer Georg Ehrlich schuf Bronzebüsten von Erica Tietze sowie auch von Hans Tietze (Österreichischen Galerie Belvedere, Wien) und zahlreiche Porträtzeichnungen, aber auch Joseph und Mimi Floch, Alma Mahler, Alexander von Zemlinsky und Arnold Schönberg gehörten zu ihrem Freundeskreis. Die Tietzes förderten zeitgenössische Künstler*innen tatkräftig publizistisch, verhalfen zu Ausstellungen und Museumsankäufen und kauften auch selbst immer wieder Kunstwerke an und schufen dadurch selbst eine beachtliche Kunstsammlung.

Ihr Mann erhielt 1919 den Titel, aber nicht die Position, eines außerordentlichen Professors für Kunstgeschichte an der Universität Wien und spielte zwischen 1900 und 1925 eine zentrale Rolle nicht nur in der kunsthistorischen Forschung und im Denkmalschutz, sondern auch beim Verbleib ("Verteidigung") des habsburgischen Kunstbesitzes in Österreich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und bei dessen Reorganisation und demokratiepolitischer "Verwertung". 1919 bis 1926 versuchte er als Ministerialrat im Unterrichtsministerium die bislang konkurrierenden ehemals kaiserlichen und staatlichen Sammlungen und Museen zusammenzubringen, zu reorganisieren, zu verstaatlichen und dabei bildungspolitisch zu öffnen und zu demokratisieren, scheiterte aber nach anfänglichen Erfolgen an konservativen Widerständen und quittierte 1926 den Staatsdienst.
Erica und Hans Tietze absolvierten danach eine mehrmonatige Spanienreise, und ihre 2015 publizierten Tagebücher lassen erkennen, dass sich beide damals auch innerlich von den Hoffnungen verabschiedeten, an einer humanistischen Modernisierung Österreichs in ihren Bereichen mitarbeiten zu können. Ab 1935 unternahm sie mit ihrem Mann wieder Forschungs- und Vortragsreisen in Europa und den USA und sie forschten gemeinsam in den großen Museen, Privatsammlungen und Archiven und erstellten ein Gesamtwerk über venezianische Zeichnungen der Renaissance. Die Forschungsreisen endeten aber als Flucht vor dem Nationalsozialismus.

Zum Zeitpunkt des „Anschlusses" 1938 befanden sie sich in Italien und kehrten nicht mehr nach Österreich zurück, flüchteten vielmehr 1939 nach Toledo, Ohio/USA und lebten ab 1940 in New York. Beide konnten allerdings trotz großer Wertschätzung und hoher Produktivität keine entsprechenden Stellungen im dortigen Kunst- und Wissenschaftsbetrieb finden. In ihrem (auto-)biographischen Bericht "Hans Tietze. March 1st, 1880–April 11, 1954" (Nachlass Wien Bibliothek) schildert sie den schmerzlich empfunden gesellschaftlichen Abstieg, den das Exil für beide mit sich brachte, stärker erkennbar noch bei ihrem Mann, dem ehemaligen österreichischen Hofrat und Universitätsprofessor. Das in die Emigration gerettete Doppelporträt von Kokoschka mussten sie 1939 in New York verkaufen, um mit dem Erlös ihren Lebensunterhalt zu bestreiten - eine Foto von Weihnachten 1944 zeigt das Ehepaar an einem Tisch sitzend, vor sich nur noch eine Fotografie des wertvollen Gemäldes. Nach dem Tod ihres Mannes 1954 gelang es ihr zumindest an der Columbia-University in New York bis 1956 zu lehren.

Erica Tietze-Conrat starb 1958 in New York.

Ehrungen

2004 wurde in Wien eine Internationale Hans Tietze und Erica Tietze-Conrat Gesellschaft gegründet, zur Pflege ihres Gesamtwerkes.

2008 erfolgte der Eintrag ihres Namens am Denkmal für Ausgegrenzte, Emigrierte und Ermordete des Kunsthistorischen Instituts der Universität Wien am Campus der Universität Wien, Hof 9, sowie 2009 im Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938.

Seit 2014 ist ein Teilnachlass in der Wienbibliothek zugänglich. 2015 wurde an ihrem ehemaligen Wohnhaus in Wien 19 eine Gedenktafel enthüllt und wurden die neuerrichteten Grafiksäle der Graphischen Sammlung Albertina nach dem Ehepaar Tietze benannt („Tietze Galleries für Druckgrafik und Zeichnungen“).

Im Zuge der Neugestaltung der „Tore der Erinnerung“ am Campus der Universität Wien 2023/24 wurde im November 2023 beschlossen, das Tor zwischen Hof 3 und Hof 13 nach ihr und ihrem Mann in „Tietze-Tor“ zu benennen.

Werke (Auswahl)

  • Unbekannte Werke von G. R. Donner, in: Jahrbuch der k. k. Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der kunst- und historischen Denkmale, N.F. 3, 2. T., Wien 1905.
  • Die Kunst der Frau. Ein Nachwort zur Ausstellung in der Wiener Sezession. In: Zeitschrift für bildende Kunst. Neue Folge. Band 22, 1911, S. 146–148.
  • Die Linearkomposition bei Tizian, in: Kunstgeschichtliche Anzeigen, H. 3/4, Wien 1915.
  • Die Bronzen der fürstlich Liechtensteinschen Kunstkammer, in: Jahrbuch des kunsthistorischen Instituts der k. k. Zentralkommission für Denkmalpflege, Bd. 11, Wien 1917.
  • Österreichische Barockplastik. Wien 1920.
  • Die Erfindung im Relief, ein Beitrag zur Geschichte der Kleinkunst, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen, Bd. 35, Wien 1920.
  • Oskar Laske. Wien 1921.
  • Der Utrecht-Psalter, Wien 1921.
  • Andrea Mantegna (Bibliothek der Kunstgeschichte 51). Leipzig 1923.
  • Der französische Kupferstich der Renaissance. München 1925.
  • Abschied (Poems). Radierungen von Georg Ehrlich, 1926.
  • gem. m. Hans Tietze: Domenico Campagnola's graphic art, London 1926.
  • gem. m. Hans Tietze: Kritisches Verzeichnis der Werke Albrecht Dürers 1, Der junge Dürer (Verzeichnis der Werke bis zur venezianischen Reise im Jahre 1505), Augsburg 1928.
  • gem. m. Hans Tietze: Kritisches Verzeichnis der Werke Albrecht Dürers 2.1, Der reife Dürer (Von der venezianischen Reise im Jahre 1505 bis zur niederländischen Reise im Jahre 1520 nebst Nachträgen aus den Jahren 1492-1505), Basel u.a. 1937.
  • gem. m. Hans Tietze: Kritisches Verzeichnis der Werke Albrecht Dürers 2.2, Der reife Dürer (Von der niederländischen Reise im Jahre 1520 bis zum Tode des Meisters 1528), Basel u.a. 1938.
  • gem. m. Hans Tietze: The Drawings of the Venetian Painters in the 15th and 16th Centuries. New York 1944 (²1970, ³1979).
  • Mantegna. Paintings, Drawings, Engravings. London 1955.
  • Georg Ehrlich. London 1956.
  • Dwarfs and Jesters in Art. London 1957.
  • „I then asked myself: what is the ‚Wiener Schule‘?“ Erinnerungen an die Studienjahre in Wien [1958], in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte. 59, 2011, 207–218
  • Tagebücher. 3 Bände. Hrsg. von Alexandra Caruso, Böhlau, Wien 2015.

Archiv der Universität Wien, Rigorosenakt PH RA 1962, Promotionsprotokoll PHIL III (1905-1912) Nr. 38

Herbert Posch

Zuletzt aktualisiert am 17.01.2024 - 15:23

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