„Furor teutonicus und Rassenhass“

Theodor Billroths universitätspolitischer Einfluss auf die Nationalisierung der Medizin
1867–1893

1867 wurde der renommierte Chirurg Theodor Billroth an die Zweite Chirurgische Klinik der Universität Wien berufen. Seine Chirurgenschule wurde zu einem Exzellenzzentrum der „deutschen“ Chirurgie, repräsentiert durch eine „deutsche“ Elite. Von den Anderen, die für ihn nicht zur deutschen Kulturnation gehörten, grenzte sich Billroth ab. In einer kulturkritischen Studie kritisierte der Chirurg die reformresistente österreichische Regierung, die den starken Zustrom „ostjüdischer“ Medizinstudenten zuließ. Er forderte für das Medizinstudium einen Numerus clausus, der „jüdische“ Studenten generell diskriminierte. Die Konsequenz waren Debatten im Reichsrat, Kritiken des „jüdischen“ Bürgertums und Konfrontationen zwischen „deutschen“ und „jüdischen“ Studenten im Hörsaal. Deutsche Studentenverbindungen begannen mit dem Ausschluss von Juden, da sie nach Billroth „eine scharf ausgeprägte Nation [und] doch eben nur zufällig deutsch redende, zufällig in Deutschland erzogene Juden“ waren.

Botschafter  der „deutschen“ Wissenschaft – Führungsanspruch und Nationalismus

Am 11. Oktober 1867 hielt Theodor Billroth an der Universität Wien seine Antrittsvorlesung. Sein Ziel war, die Wiener Medizinische Schule nach dem deutschen Universitätssystem zu reformieren. Die Studenten ersuchte er, seiner „Führung“ zu vertrauen, da er „den Weg von Theorie zur Praxis“ kenne. Während des Medizinstudiums in Greifswald, Göttingen und Berlin hatte er in einem bescheidenen Milieu gelebt. Im Streben nach sozialer Mobilität, verbunden mit hoher Leistungskapazität, hatte sich Billroth zur autoritären Führungspersönlichkeit entwickelt.

Zahlreiche seiner Briefe enthalten emotionale Schilderungen von Alltagserfahrungen im multikulturellen Wien, das während seiner Klinikleitung zum Magneten für Studenten aus den östlichen Kronländern der Monarchie wurde. Die Beschreibungen der daraus entstehenden sozialen, nationalen und bildungspolitischen Probleme der Reichsmetropole und der Universität als ihr intellektuelles Zentrum, konzentrieren sich auf eine „deutsche“ Elite in Kunst und Wissenschaft und eine Ausgrenzung des „Fremden“.

Für Studenten und Assistenten war Billroth das Idealbild eines Deutschen. „Der Furor teutonicus tobte in mir, der deutsche Urmensch kam überall heraus, der jeder anderen Nation mißtraut“, schrieb Billroth, nachdem er als Feldarzt am Deutsch-Französischen Krieg 1870 teilgenommen hatte. Nach Meinung von Medizinhistorikern zeigen seine Briefe von 1870 bis 1875 die soziokulturellen Aspekte des Pangermanismus. Sie seien „deutsch-chauvinistisch“ und „von unversöhnlichem Franzosenhaß diktiert“.

Sensationelle chirurgische Erfolge verliehen Billroth ein hohes Ansehen. Aus seinen Erfahrungen erarbeitete er ein Programm zur Universitätsreform und instrumentalisierte die allgemeine Unzufriedenheit mit der Bildungspolitik der Regierung und die Existenzängste nach dem Börsenkrach 1873 für die Durchsetzung eines deutschen Universitätsprogramms. Im Studienjahr 1873/74 lehnte er alle Berufungsvorschläge des Professorenkollegiums der Medizinischen Fakultät ab, die Österreicher an erster Stelle reihten. In der Eröffnungsvorlesung 1874 beanspruchte er mit missionarischem Sendungsbewusstsein eine deutsche Führung für die Medizinische Fakultät der Universität Wien. Zeitgenössische Quellen bestätigen, dass es Billroth ausgezeichnet verstanden hatte, die Diskussion um Universitätsreformen taktisch klug durch eine Lobby-Bildung im deutschnationalen Studentenmilieu zu nützen.

Billroths Studie und die Diskriminierung jüdischer Medizinstudenten

Ermutigt durch die Bewunderung von Studenten und herausgefordert durch das Interesse der Presse an den internen Differenzen der Universität Wien, beschloss Billroth 1875, seine Reformvorschläge für das Medizinstudium zu publizieren. Mit der kulturhistorischen Studie „Über das Lehren und Lernen der medicinischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation“, zeigte er die Defizite in der Lehre und in der Ausbildung von Ärzten auf und bot gleichzeitig Reformideen an. Er hob die Bedeutung der Deutschen in den Wissenschaften hervor, ihren Ehrgeiz, ihren Idealismus und ihr „Streben nach Erkenntnis“.

Wer Medizin studierte, musste nach Billroths Vorstellung bestimmte Kriterien erfüllen: Erziehung in einem „gutem Hause“, eine ausgezeichnete Beherrschung der deutschen Sprache und hohe Intelligenz. „Ostjüdische“ Studenten, „das leider nicht ganz auszurottende Unkraut der Wiener Studentenschaft“,  erfüllten für ihn auf Grund ihres Herkunftsmilieus diese Voraussetzungen nicht. Selektion sollte die „deutsche“ Elite der Medizin von sozialen Aufsteigern trennen. Billroth blendete die Erfahrungen seiner Jugend in Armut aus und konzentrierte sich auf die ihm konträr erscheinenden Ethnien. Juden als „scharf ausgeprägte Nation“ gehörten für ihn nicht zur deutschen Kultur- und Sprachnation. Die Ausgrenzung rechtfertigte Billroth biologistisch mit der unüberwindbaren „Kluft zwischen rein deutschem und rein jüdischem Blut“.

Billroth bezog damit die Argumentation des modernen, rassisch fundierten Antisemitismus mit ein, der für eine strikte Trennung der „Rassen“ eintrat. Indem mit Billroth nun ein Mediziner diese biopolitische Rhetorik verwendete, verhalf er dem modernen Antisemitismus zum Nimbus wissenschaftlicher Seriosität. Billroth mobilisierte damit „deutsche“ Medizinstudenten gegen die sich heranbildende Konkurrenz der „jüdischen“ Mitstudenten.

Reaktionen des jüdischen Bürgertums und deutschnationaler Studentenverbindungen

Der Jurist Ferdinand Horn legte Billroth in einem „Offenen Brief“ dar, warum er sich von ihm nicht in seinem „Vaterlande zum Fremdling“ machen lasse. Es sei nicht sein Recht, den „jüdischen Mitbürgern“ „das Heimatrecht auf deutschem Boden und im deutschen Volke“ zu entziehen. Max Nordau führte den Verkaufserfolg des Buches auf die Aufstachelung des „Judenhasses“ zurück. Billroth sei beim Judentum in seiner Wahrnehmung in einen „ohnmächtigen Schlummer“ versunken und er habe Vorurteile bedient, die wieder aufstiegen „wie ein spukendes Gespenst.“

An der Universität Wien führte Billroths Buch „Lehren und Lernen“ zur Verdichtung des kollektiven Feindbilds „Jude“ und zur Verschärfung der ethnischen Konflikte. Am 6. Dezember 1875 begrüßten „ultradeutsche Verbindungen" Billroth im Hörsaal mit „Prosit“-Rufen und stürmischem Applaus. Mit „Pereat“- und „Juden hinaus“-Rufen unterstützten sie den akademischen Antisemitismus des berühmten Chirurgen. Für deutschnationale Studenten war der charismatische Billroth ein Identifikationsobjekt, weil er eine politische Rhetorik vertrat, die national polarisierte und ihnen Argumente für den Ausschluss von „Juden“ lieferte.

„Die einstimmig beschlossene Solidaritätsadresse“ des „Lesevereins der deutschen Studenten Wiens“ für Billroth war ein Dokument des Bekenntnisses zum Deutschnationalismus. Dem Verein versprach der Chirurg, auch in Zukunft ihren „Burschen-Comment“ hochzuhalten: „Vivat, Floreat, Crescat Academia Imperialis Viennensis! Decus et Gloria Austriae! Deliciae Populorum Germanorum!“. Aus den ersten judenfeindlichen Ausschreitungen an der Universität entwickelte sich ein kontinuierlich radikaler werdender politischer Antisemitismus. 1877/78 grenzten sich die Burschenschaften „Libertas“ und „Teutonia“ gegenüber ihren „jüdischen“ Kommilitonen mit der Begründung ab, dass „ein Jude nicht gut deutsch gesinnt sein könne“. 1878 führte die „Libertas“ den „Arier-Paragraphen“ ein.

1881 beklagte Billroth erneut die Überfüllung der Hörsäle an der Medizinischen Fakultät. Er forderte, dass „deutsche“ Studenten in der Vergabe der Studienplätze bevorzugt würden, weil die Deutschen „auf dem Gebiete der Naturwissenschaften, Medicin und Chirurgie“ führend seien und dadurch die „Superiorität über die anderen Kulturvölker“ errungen hätten. 1882 lehnte Billroth eine Berufung nach Berlin ab, worauf die „deutschen“ Studenten ihm zu Ehren einen Fackelzug organisierten und ihm eine Adresse mit zweitausend Unterschriften überreichten. 1886 verlangte Billroth in den „Aphorismen zum Lehren und Lernen“ für Studenten der Wiener Universität ein „österreichisches Maturazeugnis“.

Mit der „Billroth-Affaire“ entstand eine universitätspolitische Eigendynamik, die das politische Handeln der künftigen Generationen prägte. Durch den zunehmenden Nationalismus und Antisemitismus wurde die Universität zum Politlabor der Inhumanität.

Billroth als Philosemit?

Um Billroths politische Haltung in der Öffentlichkeit zu revidieren, überzeugten ihn Kollegen, den Wiener „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ finanziell zu unterstützen. Der Chirurg stimmte zu, weil ihm die „Juden Wiens“ bei der Baufinanzierung des „Rudolfinerhauses“ „tapfer geholfen“ hatten. Am 17. März 1893 wurde Billroth Ehrenmitglied des Vereins. Diese Anerkennung des Sponsors wird oft als Nachweis für eine philosemitische Haltung interpretiert, doch war er weder Gründungsmitglied, wie manche meinen, noch wirkliches Mitglied. Billroths Xenophobie wird negiert, weil er sowohl „jüdische“ Assistenten als auch „jüdische“ Freunde hatte. Die Vereinbarkeit von Xenophobie und Toleranz verdeutlichte Billroth am Beispiel des „Franzosenhasses“: „Ich bin durch meinen Stand gezwungen, den Menschen ohne Unterschied der Raçe [!] [...] zu helfen. [...] Die Liebenswürdigkeit einiger Franzosen [lässt sich] mit dem Raçenhaß ganz gut vereinigen. Wozu hätte unser Hirn, unsere Religion und unsere Moral sonst so viele Windungen!“