Die Universität am „Ring des 12. November“

1918 – Vom Ersten Weltkrieg zur Ersten Republik
1918–1923

Das Ende des Ersten Weltkriegs und der Zerfall der Habsburger-Monarchie im Oktober/November 1918 bedeuteten für ganz Europa eine grundlegende politische Neuordnung. Wie die am 12. November 1918 ausgerufene Republik „Deutschösterreich“ stand auch die Universität Wien nun vor zahlreichen schwierigen Aufgaben. Vor Kriegsbeginn hatte sie als größte Hochschule der Monarchie auch zu den bedeutendsten Universitäten weltweit gezählt. Insbesondere in den Fachbereichen Medizin, Nationalökonomie, Kunstgeschichte sowie in verschiedenen naturwissenschaftlichen Fächern galt sie als international führend. Nach dem politischen Umbruch war die Situation an der Universität Wien von wirtschaftlicher Not, von der „erzwungenen“ Neuorientierung innerhalb der Rahmenbedingungen der Republik sowie durch Konservatismus und eine Erstarkung deutschnationaler und antisemitischer Strömungen geprägt.

Not und Krise

Die wirtschaftliche und soziale Not war insbesondere in Wien dramatisch. Besonders die zahlreichen Flüchtlinge aus den ehemaligen Kronländern, die Zuflucht suchten bzw. sich auf Durchreise in die Heimatländer befanden, waren von ihr betroffen. Um die chaotische Situation im Nachkriegs-Wien zu verbessern riefen die Rektoren der Wiener Hochschulen Anfang November 1918 Studierende auf, sich zum freiwilligen Ordnungsdienst an den Wiener Bahnhöfen zu melden. Diese sollten besonders die in Massen durchreisenden heimkehrenden Soldaten und Kriegsgefangenen aller Nationen koordinieren, ihnen Waffen und Munition abnehmen und die Aufrechterhaltung des Verkehrs und der Ordnung sicherstellen. Um eine rege Teilnahme zu ermöglichen, ließ RektorFriedrich Johann Becke den Vorlesungsbetrieb von 5. bis 13. November 1918 einstellen. Aufgrund von Kohlemangel musste die Universität ab Mitte Dezember bis Anfang Februar 1919 geschlossen werden, da Beheizung und Beleuchtung nicht mehr sichergestellt werden konnte.

Spenden und Ehrungen

Die Universität litt in der Nachkriegszeit unter massiven finanziellen Schwierigkeiten, die nur durch Hilfeleistungen aus dem Ausland (besonders USA, Großbritannien, Argentinien, Schweiz und Schweden) bewältigt werden konnten. So wurden vor allem durch amerikanische, britische und schweizerische Hilfsaktionen ab 1919 Nahrungsmittel für bedürftige Studierende bereitgestellt. Im Sommer 1919 wurden für hunderte Wiener Studierende Ferienreisen in die Schweiz sowie nach Schweden organisiert. Unter den zahlreichen Organisationen, die in den Nachkriegsjahren die Universität Wien, ihre Studierenden und Lehrenden mit Nahrungs-, Kleider-, Bücher- und Geldspenden unterstützten, sind besonders die American Relief Administration (um Edgar Rickard), die 1920 in Wien gegründete European Student Relief (Europäische Studentenhilfe) der World's Student Christian Federation (um Donald Grant bzw. David Atherton-Smith), der von​ Edward S. Harkness gestiftete Commonwealth Fund in New York, die Friends Relief Mission der Quäker (um Hilda Clark und Edith Pye), das Oxford Committee for the Help of Universities in Central Europe, die Rockefeller Foundation (u.a. George Vincent und William Welch) sowie die von dem New Yorker Anthropologen Franz Boas mitbegründete “Emergency Society for German and Austrian Science and Art” zu nennen.
Um sich für die „hervorragenden materiellen Förderungen“ erkenntlich zu zeigen, wurden ab 1921 über 50 SpenderInnen mit dem eigens dafür eingeführten Auszeichnungen Ehrenzeichen bzw. der Ehrenmedaille geehrt. Unter den Ausgezeichneten waren u.a. der argentinische Präsident Hipólito Irigoyen sowie der spätere US-amerikanische Präsident Herbert Hoover.

Um internationale Kontakte im Sinne der „Völkerversöhnung“ weiter zu fördern, beteiligten sich außerdem zahlreiche internationale Gelehrte (u.a. William Beveridge) an den 1922 neugeschaffenen „Wiener Internationalen Hochschulkursen“, die neben Sprachkursen auch Vortragsreihen zu geistes- und kulturgeschichtlichen Themen boten.

Die Studierenden

Die Studierendenzahlen, die infolge des Krieges um rund die Hälfte gesunken waren, nahmen unmittelbar nach Kriegsende wieder rasch zu, da nun mehrere Maturajahrgänge, die in den Jahren zuvor kriegsbedingt nicht inskribieren hatten können, gleichzeitig an die Universitäten kamen. Im Wintersemester 1918/19 waren bereits wieder 10.554 Studierende (15 % Frauen) an der Universität Wien eingeschrieben. Neben rückkehrenden Soldaten, die Studienerleichterungen erhielten, stellten besonders Flüchtlinge aus den früheren östlichen Provinzen der Monarchie (Galizien, Bukowina, Polen), von denen viele jüdisch waren, eine große Gruppe. Die Inskriptionsbedingungen für ausländische Studierende wurden während der Ersten Republik zunehmend verschärft.

Nachdem mit 12. November 1918 das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, folgte 1919 die erstmalige Zulassung von weiblichen Studierenden an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät.

Bereits im November 1918 forderte die Wiener Evangelische Fakultät – zu diesem Zeitpunkt noch nicht Teil der Universität – die Regierung des neugebildeten Staates Deutschösterreich auf, die „Eingliederung in den Organismus der Wiener Universität nunmehr endlich “ zu verwirklichen. 1922 wurde die Evangelisch-Theologische Fakultät endlich als fünfte Fakultät der Universität inkorporiert und öffnete 1923 auch für Frauen den Zugang zum Studium.

Symbolische Umbrüche 1918

Da die Promotionsurkunden bis 1918 die lateinische Formulierung enthalten hatten, dass die Promotionen unter den Auspizien des Kaisers vollzogen worden waren, machte die Republiksgründung auch hier eine Änderung nötig. Die im 17. Jahrhundert eingeführte Ehrung in Form einer „promotio sub auspiciis imperatoris“ wurde mit dem Ende der Monarchie ebenso abgeschafft. Der Tag der Ausrufung der Republik Österreich – der 12. November 1918 – schrieb sich für einige Jahre auf symbolischer Ebene unübersehbar in die Geschichte der Universität Wien ein: Das Hauptgebäude der Universität Wien, das 1884 am „Franzensring“ – benannt nach Franz I., dem ersten Kaiser von Österreich – eröffnet worden war, erhielt 1919 die Adresse „Ring des 12. November“ zur Erinnerung an die Republiksgründung, bis 1934 die Umbenennung in „Dr.-Karl-Lueger-Ring“ erfolgte.

Die meisten Traditionen und Rituale wurden jedoch nach der Zäsur 1918 ungebrochen fortgeführt. In Form des „Heldengedenkens“ hinterließ der Erste Weltkrieg auch in der universitären Gedenkkultur deutliche Spuren: So fand etwa am 1. November 1919 im Großen Festsaal eine großangelegte Trauerfeier der Wiener Hochschulen statt. Besonders aber der 1923 in der Aula aufgestellte „Siegfriedskopf“ – „errichtet von der Deutschen Studentenschaft und ihren Lehrern“ für die in „Ehren gefallenen Helden unserer Universität“ – glorifizierte den Heldentod der einer „deutschen“ Jugend als kämpfenden Studenten.

„Anschlussgedanke“

Ein Großteil der ÖsterreicherInnen – Deutschnationale ebenso wie Christlichsoziale und Sozialdemokraten – betrachtete die  Vereinigung des vom großen Habsburgerreich übriggebliebenen „Deutschösterreich“ mit Deutschland als wichtiges Ziel. Auch der Senat der Universität Wien sprach sich in einer einstimmig beschlossenen Willensbekundung an das Unterrichtsministerium dafür aus. Der am 10. September 1919 unterzeichnete Friedensvertrag von St. Germain, der von der Nationalversammlung unter Protest angenommen wurde, untersagte jedoch letztendlich die Staatsbezeichnung „Deutschösterreich“ und sowie den Anschluss an Deutschland. Bereits am 15. Juni 1919 – noch während der Verhandlungen – hatten Studierende und Professoren aller Wiener Hochschulen am Ring vor der Universität Wien gegen den Friedensvertrag demonstriert.
Diese Haltung fand auch ihren Ausdruck in der universitären Festkultur: Während die Feiern zum ersten Jahrestag der Republik 1919 als „zu politisch“ abgelehnt wurden, wurde der 50. Jahrestag der Gründung des Deutschen Kaiserreiches am 18. Jänner 1921 unter Anwesenheit der Wiener Rektoren mit einer Großkundgebung gefeiert und von der Regierung in einer Resolution einen rascher Anschluss an das Deutsche Reich gefordert.

Antisemitismus

An den Hochschulen entstanden sozialistische, liberale sowie katholische und deutschnationale Studentenorganisationen. Der 1919 von deutschnationalen und katholischen Studentenverbindungen gewählte „deutsch-arische“ Hochschulausschuss bildete die Basis der späteren „Deutschen Studentenschaft“, die von den Universitätsbehörden anerkannt wurde.
In der Zwischenkriegszeit wurden katholisch- und deutschnationale Eliten tonangebend, die durch eigene Professorennetzwerke sowie gewalttätige Ausschreitungen ihnen nahestehender Studierender gegen jüdische und linke KollegInnen für die öffentliche Durchsetzung ihrer antisemitischen Ziele sorgten. Bereits kurz nach Ausrufung der „Republik Deutsch-Österreich“ im November 1918 setzten heftige Gewaltakte ein, die vor allem gegen jüdische Studierende an den Hochschulen gerichtet waren. Mehrere Rektoren der Universität Wien in der Ersten Republik sahen den „deutschen Charakter“ der Universität durch Überfremdung gefährdet und forderten die Bevorzugung der Studierenden deutscher Nationalität sowie die Einrichtung einer studentischen Interessensvertretung mit Beschränkung auf „Deutschösterreicher deutscher Nationalität“.

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