Die Wiener „Doktorenkollegien“

Oder: Der Streit um die Rechtsgestalt der Universität
15. Jhdt.–19. Jhdt.

Zwischen 1849 und 1873 gab es an den Universitäten Wien und Prag eine Besonderheit, die aus heutiger Perspektive beinahe skurril anmutet: An den jeweiligen Fakultäten gab es nicht nur einen, sondern zwei Dekane zur selben Zeit. Einer stand dem Professorenkollegium vor, der andere dem Doktorenkollegium. Beide Kollegien beanspruchten für sich, die "wahren" Fakultäten zu repräsentieren. Hinter diesem Konflikt stand die ungelöste Frage, was denn Universitäten eigentlich wären: staatliche Anstalten oder autonome Korporationen?

Wurzeln in Mittelalter und früher Neuzeit

Europäische Universitätsgründungen des späten Mittelalters entstanden oft als autonome Korporationen der Lehrenden und Lernenden zum Zwecke des gelehrten Studiums nach dem Pariser Vorbild. Als oberste Verwaltungs- und Gerichtsinstanz der Universitätsgemeinde fungierte der jährlich gewählte Rektor, während die Fakultäten, Kollegien, Bursen und akademischen Nationen für das Studium und die Gestaltung des Alltags sorgten. Als akademische Korporationen standen sie unter dem gemeinsamen „Dach“ der Universität.

Den gelehrten Unterricht erteilten die Magister und Doktoren der vier Fakultäten, die von selbständig gewählten Dekanen geleitet wurden. Sie nahmen die Rigorosen ab und besaßen die facultas creandi doctores, das Promotionsrecht. Die Absolventen konnten in die Fakultäten aufgenommen werden und waren berechtigt, öffentliche Vorlesungen abzuhalten. Jede Fakultät übte als gelehrte Korporation das Promotionsrecht autonom aus. Der Rector magnificus erhielt erst 1749 das Recht, an Graduierungen formal mitzuwirken.

Promovierte konnten in das Gremium der jeweiligen Fakultät aufgenommen werden und erhielten das Recht, bei den Sitzungen, Verhandlungen, strengen Prüfungen, Abstimmungen, Graduierungen und allen feierlichen actus der Fakultät teilzunehmen. Die Fakultätskorporationen (Doktorenkollegien) in Prag und Wien bestanden demnach aus ihren immatrikulierten Absolventen. Formal wurden auch die eingeschriebenen Studierenden dazu gezählt. De facto konnten sie an den Entscheidungen jedoch nicht mitwirken. Als studentische Vertreter galten nominell die Prokuratoren der vier „Akademischen Nationen“ (Österreichische, Rheinische. Ungarische, Sächsische Nation), die bis 1848 den Rektor wählten. Die Lehre sowie das Prüfungs- und Graduierungswesen waren in der Hand der Doktoren und Magister. Das führte dazu, dass man die Fakultäten primär als „Doktorenkollegien“ wahrnahm, welche die Tradition der alten Korporationen formal bis in das 19. Jahrhundert hochhielten.

Beginnende „Verstaatlichung“ des Studiums

Im Jahre 1554 führte der österreichische Landesfürst Ferdinand I. besoldete Universitätslehrer ein. Sie hatten bestimmte Fächer zu vertreten. So entstanden zwei Gruppen von akademischen Fakultätsangehörigen: die „staatlich“ finanzierten doctores stipendiati (Professoren) neben den doctores in actu regendi (frei lesende Doktoren/Magistri). Während die Professoren vorgegebene Nominalfächer vertraten, konnten die Doktoren und Magister traditionell frei gewählte Bücher vorlesen und auslegen. Die Vorlesungen dieser „frei lesenden Doktoren“, die direkt vom Kollegiengeld ihrer Hörer (pastus) oder von Stiftungen und Stipendien lebten, wurden rasch überflüssig, weil sie im Gegensatz zu den Lehrveranstaltungen der Professoren für das Studium nicht mehr verpflichtend waren.

Die Folge war, dass man die Fakultätsmitglieder seit dem späten 16. Jahrhundert in „Lesende“ und „Nichtlesende“ (doctores legentes und doctores non legentes) unterschied. Die wesentliche Rolle kam nun der staatlich verordneten Lehre zu. Unter Maria Theresia wurde zudem verfügt, dass die besoldeten Professoren von allen akademischen Ämtern fernzuhalten seien. Die Lehre wurde unter die Aufsicht eines staatlichen Studienpräses gestellt. Man wollte sicherstellen, dass sie die Vorlesungen nicht aufgrund akademischer Ämter vernachlässigen und nur den approbierten Lehrstoff vortragen würden. Das führte dazu, dass sich die non legentes immer mehr als die Träger der im Mittelalter gestifteten korporativen Fakultäten fühlten. Die staatlich besoldeten Professoren wurden hingegen als Vertreter einer „Staatsschule“ wahrgenommen.

Korporation oder Staatsanstalt?

Mit der provisorischen Universitätsreform unter Minister Thun-Hohenstein (1849) wurden die „akademischen Behörden“ neu organisiert, die Fakultäten zweigeteilt. Sie bestanden nun jeweils aus einem Professoren- und einem Doktorenkolleg. Beide besaßen eigene Dekane („Professoren- und Doktorendekan“), deren gegensätzliche Interessen zu heftigen Konflikten führten. Im Zuge der Reform schlug die Politik den Weg zur „modernen Ordinarienuniversität“ nach deutschem Vorbild ein. Dies wurde durch die Berufung zahlreicher gelehrter Professoren aus Deutschland gefördert. Eigenes, künftiges wissenschaftliches Lehrpersonal wollte man durch die Habilitation von Privatdozenten ausbilden. Sie wurden nicht staatlich angestellt. Daher führte man 1850 das von den Studierenden zu entrichtende Kollegiengeld ein.

In der Lehre spielten die oft extrem konservativen Doktoren keine Rolle. Sie veranstalteten allgemein zugängliche Vorträge, publizierten fachliche Abhandlungen und Berichte, verfassten Gutachten und waren bei strengen Prüfungen und Promotionen durch ihren Dekan vertreten. Auch die Vergabe von Stiftungen gehörte zu ihren Aufgaben. Ihre enge Verbindung zur beruflichen Praxis war wohl nützlich. In ihren Reihen gab es Ärzte, Notare, Rechtsanwälte, Lehrer, Geistliche und einflussreiche Staatsdiener. Sie standen im krassen Gegensatz zu den „Progressiven“, den professoralen Theoretikern, die eine „aus Staatsmitteln hervorgegangene Lehranstalt“ ferne der Praxis betreuten. Dagegen verstanden sich die Doktoren als legitime Repräsentanten der von den Habsburgern begründeten Korporation. Sie traten vehement für die Wiedereinführung der zunftmäßigen Verfassung ein.

Ein besonderer Konfliktstoff war die Frage des „katholischen Charakters“ der Universität. Längst gab es auch protestantische Professoren im Lehrkörper, auch die Möglichkeit einer Eingliederung der Evangelisch-theologischen Fakultät wurde diskutiert. Die Mitwirkung der Doktoren im Konsistorium (Senat) sowie bei den Rigorosen und Promotionen war dem Professoren ein Dorn im Auge. Das Niveau der Lehre würde durch Doktoren, die neben ihren Brotberufen tatsächlich kaum Zeit für eigene wissenschaftliche Forschung fänden, sinken. Die korporativen Doktorenkollegien, die als überkommene autonome „Zunft“ einer staatlichen Regulierung formal entzogen waren, passten nicht mehr in das Bild einer modernen, wissenschaftlichen Forschungsuniversität.

Die Ordinarienuniversität setzt sich durch

In Deutschland wurde der Wandel der alten Korporationen zu „Veranstaltungen des Staates“ seit dem 18. Jahrhundert längst vollzogen. Dagegen hat man in Österreich den Mythos der freien Korporation am Leben erhalten. Der Landesherr beanspruchte seit dem 16. Jahrhundert das Recht, das Studium nach seinen politischen Zielen zu gestalten. Trotzdem bestätigten die Landesfürsten immer wieder die alten, erstarrten Privilegien. Damit wurde eine Kontinuität dieser Korporationen suggeriert. Ihre lange Existenz verdankten sie der Tatsache, dass sie in der habsburgischen Haustradition fest verankert waren.

Im Jänner 1865 überreichten 58 namhafte Wiener Gelehrte eine Adresse an den liberalen Staatsminister Anton Ritter von Schmerling, in der sie die Neugestaltung auf Basis des provisorischen Gesetzes von 1849 forderten. Vor allem sollten „alle heterogenen Elemente“, besonders die korporativen Doktorenkollegien, aus dem Universitätsverband ausgeschieden werden. Die Universität sah man als „Staatsanstalt“, die den Interessen der modernen Wissenschaft und Lehre im Auftrage des Staates dienen sollte.

Den Endpunkt dieser Entwicklung brachte das Gesetz vom 27. April 1873 über die Organisation der akademischen Behörden. Die Doktorenkollegien wurden in Wien und Prag aus den Universitäten ausgeschieden. Ihre Dekane mussten die Amts- Insignien (Ketten, Szepter, Siegel) ausliefern. Jegliche Mitwirkung im Rahmen der universitären Lehre und Verwaltung wurde ihnen entzogen. Sie hatten das Recht als selbständige Korporationen weiter zu wirken. Besonders die Juristen und Mediziner machten von diesem Recht Gebrauch. Als Standesvertretung dienten in der Folge Ärzte- und Rechtsanwaltskammer, die zum Teil Vermögen, Stiftungen und soziale Aufgaben (z. B. Witwen-und Waisengesellschaft) der Doktorenkollegien übernahmen.

Die Ordinarienuniversität hatte sich für das nächste Jahrhundert durchgesetzt. Die heikle Frage, ob die nun wissenschaftlich erfolgreiche Universität eine „Korporation oder Staatsanstalt“ sei, ließ der Gesetzgeber offen. Die Gründung der Franz-Josephs-Universität Czernowitz (1875) erfolgte sogar als eine mit „voller Selbständigkeit und Autonomie ausgerüstete Corporation“.

Kurt Mühlberger

Zuletzt aktualisiert am : 06.03.2024 - 20:38

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